In Berlin verschärft sich die medizinische Notlage unter obdachlosen und nicht krankenversicherten Menschen. Die Anlaufstelle am Ostbahnhof gehört zu den wenigen Einrichtungen, die weiterhelfen – obwohl Ressourcen fehlen. Dort behandelt das Team täglich Dutzende Patientinnen und Patienten mit schwerwiegenden Erkrankungen. Die Zahl der Hilfesuchenden steigt, während staatliche Mittel knapp bleiben.
Inhaltsverzeichnis:
- Krankenschwester Siebertkaiser kämpft gegen die Folgen der Obdachlosigkeit
- Christin Recknagel warnt vor dem Zusammenbruch der Versorgung
- Baby Liem ohne Versicherung – ein Beispiel für Systemversagen
- Kliniken und Praxen bleiben auf Kosten sitzen – Finanzierung fehlt
Krankenschwester Siebertkaiser kämpft gegen die Folgen der Obdachlosigkeit
Seit 31 Jahren arbeitet Kerstin Siebertkaiser in der Obdachlosenpraxis der GEBEWO am Berliner Ostbahnhof. Sie versorgt Patientinnen und Patienten mit Krätze, Infektionen und offenen Wunden. Viele von ihnen sind stark verwahrlost. Einige tragen Kleidung, die regelrecht vom Körper geschnitten werden muss.
Im Behandlungsraum gibt es ein Fußwaschbecken. Fast alle Patientinnen und Patienten duschen zuerst. In der Kleiderkammer liegen Hygieneartikel bereit – aber in kleinen Mengen. „Wer eine ganze Flasche Duschgel bekommt, bringt sie oft nicht zurück“, erklärt Siebertkaiser. Die Versorgung erfolgt unter schwierigsten Bedingungen. Medikamente, Pflaster, sogar Tee sind knapp.
Christin Recknagel warnt vor dem Zusammenbruch der Versorgung
Christin Recknagel leitet die Einrichtung am Stralauer Platz und sieht täglich rund 40 Patientinnen und Patienten. Die Nachfrage ist hoch, doch die Mittel begrenzt. Essen wird nicht mehr ausgegeben. Die medizinische Betreuung wird durch Ehrenamtliche aufrechterhalten. Nur ein Teil der Kosten wird durch den Berliner Senat getragen.
Laut Recknagel landen viele Menschen wegen Arbeitsmigration auf der Straße. Sie werden mit falschen Versprechungen nach Deutschland gelockt. Ohne Anmeldung durch den Arbeitgeber erhalten sie keine Krankenversicherung und keine Grundsicherung. 2023 wurden in Berlin über 33.000 Behandlungen dokumentiert. Nur 12 Prozent der Patienten waren krankenversichert.
Baby Liem ohne Versicherung – ein Beispiel für Systemversagen
Ein besonders tragischer Fall betrifft den zehn Monate alten Liem. Seine vietnamesische Mutter befindet sich im Asylverfahren. Da es keine Geburtsurkunde gibt, kann das Kind nicht krankenversichert werden. Das zuständige Amt verweist auf die Familienversicherung über den Vater. Doch dafür ist eine umfangreiche Prüfung notwendig.
Liem wird aktuell nur in der „open.med-Ambulanz Zehlendorf“ medizinisch betreut. Dort erhält er Impfungen und Vorsorgeuntersuchungen. Ärzte stellten eine schwere Kopfasymmetrie fest. Er braucht dringend Physiotherapie. Ohne private Hilfe wäre eine Behandlung nicht möglich.
Kliniken und Praxen bleiben auf Kosten sitzen – Finanzierung fehlt
Marc Schreiner von der Berliner Krankenhausgesellschaft berichtet von jährlichen Ausfällen in zweistelliger Millionenhöhe, weil Kliniken keine Erstattungen für unversicherte Patienten erhalten. Auch Peter Bobbert, Präsident der Ärztekammer Berlin, fordert eine verlässliche Lösung.
Der Runde Tisch zur medizinischen Versorgung Obdachloser empfiehlt eine bundeseinheitliche Finanzierung. Rund 450.000 Euro pro Monat wären nötig, um das medizinische Personal fair zu entlohnen. Bisher gibt es keine dauerhafte Lösung. Gesundheitssenatorin Ina Czyborra stellt frühestens 2028/29 eine übergreifende Finanzierung in Aussicht.
Christin Recknagel sieht eine gefährliche Entwicklung: Immer mehr Menschen mit psychischen Problemen kommen in die Praxis. „Wir bieten nur noch Überlebenshilfe“, sagt sie. 2016 konnte man noch langfristige Perspektiven eröffnen. Heute fehlen dafür Kapazitäten und Strukturen.
Quelle: MOZ